Das Lyrik-Lab will auch zeigen, wie und womit es als Produktionsstätte frischer Lyrik arbeitet. Wenigstens einen Titel der von uns zu Rate gezogenen Literatur stellen wir deshalb für jede neue Jahreszeit in der folgenden Liste vor. Dabei verpflichten wir uns nur der Aktualität des Themas, nicht des Publikationsdatums.
Gebrauchs-Hinweise: Zitate werden entsprechend der uns vorliegenden Exemplare wiedergegeben, Seitenwechsel werden mit einem senkrechten Trennstrich angezeigt, Seitenangaben hinter Zitaten beziehen sich auf das jeweils zu Rate gezogene, im Lyrik-Labor Ruhrgebiet vorliegende Exemplar. Besondere Sorgfalt wird auf die Wiedergabe der Schreibweise gelegt, Tippfehler können dennoch nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden.
Das (C) Copyright zu allen Texten verbleibt bei den jeweiligen Rechteinhabern.
Lyrik des April 2019
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Poetisch denken
Letzten Monat empfahlen wir mit ‚Uncreative Writing‘ ein theoretisch orientiertes Werk zur Poesie; das tun wir diesen Monat noch einmal, weil wir es für eine wertvolle Ergänzung des letzten halten. Wir sprechen von Christian Metz 2018 erschienenem: Poetisch denken. Die Lyrik der Gegenwart.
Metz greift etliche Ansätze und Entwicklungen der Lyrik dieses Jahrhunderts in Deutschland mit dem Statement auf: „Alle Anzeichen sprechen dafür: In Zukunft wird man die ersten zwei Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts als Blütezeit der deutschsprachigen Lyrik bestaunen.“ Anders als Goldsmith, entdeckt Metz nämlich an vielen Stellen unserer poetischen Landschaft neue und kreative lyrische Ansätze. Diese klassifiziert er mit den vier Oberbegriffen: ‚Risikopoesie‘, ‚Scharfsichtige Unschärfepoesie‘, ‚Denkraumpoesie‘ und ‚Weltbeziehungspoesie‘, als deren VertrerInnen ihm idealtypisch Monika Rinck, Jan Wagner, Ann Cotten und Steffen Popp gelten. Damit sind vier Dimensionen benannt, die einander nicht ausschließen, vielmehr ineinander verwoben sind, keine Denkraumpoesie ohne Risiko, Weltbeziehung und scharfer Unschärfe oder unscharfer Schärfe; und so weiter. Diese Beschreibungen sprechen für sich und besagen uns, dass heutige Lyrik sehr viel denklastiger auftritt als frühere lyrische Gefühlsduseleien und dazu komplexer. Das jedoch bedeutet, Lyrik nach heutigem Stand der Kunst ist und wird wohl kaum massentauglich und anders herum, massentaugliche Poesie kann kaum auf heutigem Stand sein. „Heute muss man zugeben, dass das Gedicht sicherlich nicht mehr der Gefühlsbeweger Nummer 1 ist. Schon mal bei der Lektüre eines aktuellen Gedichts geweint? Es ist also eine realistische Selbsteinschätzung, wenn die Wirkung der Lyrik zuerst auf das Denken ausgerichtet ist und erst von dort aus eine emotionale Bewegung erzeugen will. Auf die Irritation und Erschütterung des Denkens kommt es an, um Raum für potentiell neue Gedanken zu eröffnen. ...“ [Seite 47] Wenn LyrikerInnen neue Gedanken denken, dann sind zumeist auch Gedanken in neuer lyrischer Form dabei; und das ist etwas anderes als die von Goldsmith verordnete Kombinatorik vorhandener Text-Bausteine. Metz zeigt das beispielsweise an Gedichten wie ‚mein denken‘ und ‚mein lyrisches ich‘ von Monika Rinck oder ‚Gedanken kubital‘ von Ann Cotten. Wir hoffen, Sie damit neugierig gemacht zu haben und wünschen eine anregende Lektüre des Buches.
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Warum Lyrik jetzt? 9 Stationen und Voraussetzungen des Erfolgs 10 Zwischen Pop, Erlebnis und Avantgarde 14 Re-Kombinationen. Drei Beispiele 27 Lyrische Öffentlichkeit 32 Poetisch denken. Elemente eines Programms der Gegenwartslyrik 42 Das Buch 69 Monika Rinck Risikopoesie 73 Lyrischer Fixstern, göttlicher Grapefruitkern 73 Spring doch: Rincks poetisches Denken 77 Theorie und Leidenschaft. Im Begriffsstudio 89 Let’s go – Let’s go! Lyrik im Zeitalter des negativen Narzissmus 92 Du musst dein Leben dressieren. Resilienz und Hakenschlag 98 Das Gedicht als Pony: Lücke, Glück und Fall 109 Poetik der Begegnung: Ich trifft sich im Gedicht 117 Neue Gefühlskultur 123 In Beziehung: gemeinsam denken 129 Honig den Leser*innen 142 Sturz nach oben 154 Jan Wagner Scharfsichtige Unschärfepoesie 157 Virtuosität und Biedermannverdacht 157 In Bildern denken, formbewusst 161 Der Sammler und seine Enzyklopädie des handfesten Abseitigen 176 Bildprogramm und Lektüregeheimnis: Sicherheit vs. Raffinierte Irritation 182 Von der Verunsicherung zur Kritik 190 Detektei Wagner, der Scharfsinn und das Geheimnis der Dinge 205 Unschärfevermögen als Erkenntnismedium 216 in bester Gesellschaft 225 Ann Cotten Denkraumpoesie 229 Geburt eines Wunderpunks 229 Ecken checken mit Ellbogendenken 233 Das Band: Geometrie, Figur, Raumnahme, Denkbewegung 248 Geopoetik und Möglichkeitswelt 262 Poetik loxodromer Linientreue 267 Im Denkgebäude: Bricolage im Cotten Style 279 Poesie der Bewegung: Es ist Reiz. Es ist Reiz 291 Empfindungskonstruktionen 299 Körperbegegnung: Liebe jenseits der Liebe 305 Steffen Popp Weltbeziehungspoesie 313 Poetisches Extrem mit Grundstruktur: Meer, Wald, Turm 313 Brandungsnah denken: Poetik der Informationsflut 319 Mehr Meer: Ausfaltungen einer Denkhaltung gegenüber der Welt 337 WLAN sein: Sensorium, Energetik und Weltbeziehung 343 In Beziehung setzen, verzweigen: Kontakt, Durchdringung, Atmung 355 Charakteristika von Popps Ideal-Gedicht 367 Vulnerabilität: Harz, Hinken und Misslingen 377 Den Handschuh von innen nach außen drehen 393 Blüh doch – Lyrikhochzeit und kein Ende 399 Anhang 411 Siglenverzeichnis 413 Bibliographie 415 Abbildungsverzeichnis 42
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Lyrik des März 2019
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Uncreative Writing,
von Kenneth Goldsmith, ist unsere lyrische Buch-empfehlung des März 2019; Gedichte kommen auch drin vor :-)
Vor dem Hintergrund zeitgenössischer Arbeiten (überwiegend US-amerikanischer) LyrikerInnen stellt Goldsmith in Zusammenhang mit der Behauptung, dass Kontext der neue Content sei, die Frage des Dichters Craig Dworkin: „Wie sähe eine nicht expressive Dichtung aus? Eine Dichtung des Intellekts und nicht der Emotionen? Eine, in der die Ersetzungen, die in Metapher und Bild vor sich gehen, von der direkten Darstellung der Sprache selbst abgelöst werden, in der ‚spontaner Überschwang‘ durch akribische Prozeduren und erschöpfende logische Prozesse ausgetauscht werden? In der das Selbstbewusstsein des Poeten-Egos auf die Reflexivität der Sprache im Gedicht umgeleitet wird? ...“ (hervorgehoben von nst)
Damit, meint Goldsmith, ließe sich das Feld abstecken, auf dem Lyrik unter den Bedingungen des Internets, was gleichzeitig immer hypertextuell bedeutet, auf interessante und spannende Weise ausreichend arbeiten kann. Ausreichend im Sinne Goldsmiths meint: völlig ausreichend, weshalb er im Anschluss an den Konzeptkünstler Douglas Huebler formuliert: „Die Welt ist voller Texte (mehr oder weniger interessant); ich habe nicht vor, ihnen welche hinzuzufügen“.
Wir verstehen den Wink und schmunzeln im Wissen um die beiden Unvollständigkeitssätze Kurt Gödels. Solches kunsttheoretische Säbelrasseln gehört heute zu den Aufgaben aller sich selbst ernst nehmenden KünstlerInnen. Denn wir meinen mit Robert Gernhardt, KünstlerInnen profitieren von Regeln, da jede Regel mehrfache Ausformungen ebenso zulässt, wie sie Ausnahmen zulässt, ja sogar durchaus anregt.*
Eben deshalb interessieren uns Goldsmith‘s theoretische und/oder konzeptionellen Ausführungen über sämtlich Kapitel hinweg. Nehmen wir beispielsweise das Kapitel: Unfehlbare Prozesse. Was das Schreiben von der bildenden Kunst lernen kann. Das ist nicht so neu, wie es tut, denn unfehlbare dichterische Prozesse hat E. A. Poe schon 1846 in seiner Philosophy of Composition beschrieben :-) Dass ein Autor nichts schreiben müsse, postulierte H. C. Artmann schon 1953 in seiner Proklamation des poetischen Acts.** Wir wissen auch, dass solche artifiziellen Konzepte selten beim breiten Publikum ankommen, das gilt nicht nur für die bildende Kunst oder die 12-Ton-Musik, es betrifft auch anspruchsvolle lyrische Arbeiten. Doch nun wollen wir Ihnen nicht zu viel vorwegnehmen, statt dessen wünschen wir Ihnen eine inspirierende Lektüre und Anstöße zu eigenen Werken, die Sie gerne auch hier im Lyrik-Lab einreichen können.
Goldsmith, Kenneth, 2017, Uncreative Writing. Sprachmanagement im digitalen Zeitalter. Erweiterte deutsche Ausgabe. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Swantje Lichtenstein und Hannes Bajohr, Berlin, ISBN: 978-3-95757-252-3
*Gernhardt, Robert, 2010, Was das Gedicht alles kann: Alles. Texte zur Poetik. Herausgegeben von Lutz Hagestedt und Johannes Möller, Frankfurt/M., ISBN: 978-3-10-025504-4, wir spielen hier an auf Seite 98: „Der Dichter, behaupte ich, profitiert von der Regel - ...“ ** Artmann, H. C., 1970a, Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Actes, in: ders. 1970, The Best of H. C. Artmann, Herausgegeben von Klaus Reichert, Frankfurt/M., Seite 363f.
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Inhalt
Einleitung 9 1 Die Rache des Textes 27 2 Sprache als Material 53 3 Mit Unbeständigkeit umgehen 89 4 Für eine Poetik des Hyperrealismus 113 5 Warum Appropriation? 147 6 Unfehlbare Prozesse. Was das Schreiben von der bildenden Kunst lernen kann 169 7 Unterwegs abtipppen 205 8 Die neue Unlesbarkeit parsen 215 9 Datenwolke säen 239 10 Das Inventar und das Ambiente 257 11 Unkreatives Schreiben im Seminarraum. Eine Desorientierung 275 12 Das Netz als telepathischer Raum 299 13 Provisorische Sprache 315 Nachwort 321 Danksagung 329 Anmerkungen 331 Abbildungen und Rechte 351
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Lyrik des Dezember 2018
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Anregend-interessant
Das Lyrik-Büchlein dieses Monats ist ein Geschenk, typischerweise zu Weihnachten. Das Büchlein ist neu, dieses Jahr erschienen, seine Lyrik aber schon etabliert, wenn auch manchmal angefeindet.
Es handelt sich um poema. Gedichte und Essays von Eugen Gomringer, herausgegeben von seiner Frau, Nortrud Gomringer und mit vielen Beiträgen zur konkreten poesie. Die Auseinandersetzung um Gomringers Gedicht avenidas an der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin brachte sowohl Eugen Gomringer als auch die konkrete poesie mal wieder in einen öffentlich wahrgenommenen Raum.
Wahrgenommen-werden-wollen liegt in den Konstellationen der konkreten poesie zwar ebenso, wie in vielen anderen Gedichten | (Kunst-)Werken | Äußerungen, doch die Art und Weise der publizistischen Auseinandersetzungen verriet häufig mehr über die Rezipientinnen und Rezipienten als über das Gedicht. poema präsentiert vor diesem Hintergrund nicht nur verschiedene Werke Eugen Gomringers in gediegener Form, sondern auch noch verschiedene Überlegungen, Anmerkungen, Entstehungshinweise und Inter-pretationen/Interpretationshilfen mit und zu verschiedenen Konstellationen.
Einen Überblick liefert das nebenstehende Inhaltsverzeichnis.
Wer sich intensiver mit konkreter poesie beschäftigen möchte, dem sei dieses Werk zu einem einzelnen, aber zentralen Dichter solcher Poesie in dieser kälter werdenden Zeit wärmstens empfohlen.
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Inhalt Eugen Gomringer: poema. Die poesie der konstellation 5 I. Max Bill: versuch über material und methode des dichters 9 Sibylle Lewitscharoff: Zu Eugen Gomringer 11 Kurt Marti: 'Gedichte wozu?'13 Marc E. Cory: Die Konstellation als offenes System 18 II. Eugen Gomringer: avenidas 30 Zsuzsanna Gahse: Wortgestalten 33 Nora Gomringer: Zu Avenidas 34 Eugen Gomringer: das schwarze geheimnis 36 Franz Hohler: Das schwarze Geheimnis 39 Eugen Gomringer: möv möw luv lee 40 Bernhard Echte: Eine Möwe ist eine Möve ist eine Möw 43 Eugen Gomringer: ping pong 44 Eugen Gomringer: schweigen 47 Oskar Pastior: Mit dem Fleisch des Schweigens 49 Michaelt Lentz: Die Rede ist vom Schweigen 54 Heike Basekow: Die Vergangenheit der Zukunft 64 Eugen Gomringer: gleichmässig gleich 68 Eugen Gomringer: alles ruht 71 Eugen Gomringer: einanderzudrehen 74 Eugen Gomringer: ODE AN ZÜRI 77 Peter von Matt: Der Schweizer Indianer 79 Eugen Gomringer: chumm 84 Robert Kudielka: chumm 88 Eugen Gomringer: est est est 93 Hans Peter Riese: est est est 96 Eugen Gomringer: wind vent 101 Ilma Rakusa: Es windet in Eugen Gomringers WIND 105 Eugen Gomringer: hängen und schwingend hängen 107 Eugen Gomringer: kein fehler im system 110 Ingrid Isermann: (Kein) Fehler im System 114 Eugen Gomringer: schwiizer 116 Walter Jens: Gegen den Strich gelesen 118 Eugen Gomringer: die acht häuser des i-ging 120 Nora Gomringer: die acht häuser des i-ging 128 Eugen Gomringer: konstellationen für diet sayler 132 Annette Gilbert: Zu Eugen Gomringers Konstellationen für Diet Sayler 134 Eugen Gomringer: chaos kosmos askese ekstase 142 Wulf Segebrecht: Betrachtung einer Postkarte zu Eugen Gomringers 4 Eckwerte eines Poesie-Modells 145 Eugen Gomringer: z a h l 5 6 7 8 149 Eugen Gomringer: fünf vokale 152 Franz Mon: Quadratur als Ideogramm 154 Marina von Assel: Eugen Gomringer A E I O U, 1985 156 Eugen Gomringer: das erste grün 159 Martin Krampen: Die Garderobe der Erde 161 Eugen Gomringer: Ach Du lieber Gott 164 Nortrud Gomringer: Ach Du lieber Gott 165 III. Annette Gilbert 'Die Konkrete Poesie ist vielmehr eine Kunst als eine Literatur'. Eugen Gomringer und die Kunst 168 IV. Anhang Autorinnen und Autoren 203 Textnachweise 207
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Lyrik des September 2018
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Schrecklich-schön
Diesmal verdankt sich das Buch des Monats einer beruflichen Reise in die Universitätsstadt Würzburg, wo die Buchhandlungsdichte deutlich höher ist, als im Ruhrgebiet. Dennoch hat auch dort die Lyrik keinen leichten Stand, wenn wir das anhand von Regal-Metern in den Buchhandlungen ablesen. Ein schon öfter woanders in die Hand genommenes Bändchen von Ulrike Almut Sandig, ich bin ein Feld voller Raps …, wurde dann aber die konkrete Wahl aus dem örtlichen Angebot; und, ich muss sagen: zum Glück! Denn in der Einsamkeit des nächtlichen Zimmers konnte ich in aller Ruhe eine Lyrik entdecken, deren Anmutung so vertraut und neu in einem war, dass hier ausdrücklich auf dieses schmale, aber intensive Bändchen hingewiesen wird. Das ist zu einfach? Nur daher gesagt? Dann achten Sie mal auf die Binnenreime und auch auf den nicht so ganz passenden von ‚Turm‘ und ‚Balkone‘ und versteht, Freunde des Lyrik-Labs und lest auch Anne Sexton und Christine Lavant.
„meine Freunde, versteht mich nicht falsch …
… ich bin kein artiges Kind das darf nur heimlich lösen sein Haar und lassen es flattern im Wind! ich bin ein Fant, der spinnerte Wind, das himmlische Kind, und ich drehe mich um einen Turm mit hohem Balkone, auf dem eine Frau steht und still und heimlich ihr Haar löst aber nein, diese Frau bin ich nicht, bin ich doch
will ich nie wieder sein, meine Freunde, versteht“
Sandig, Ulrike Almut, 2016, ich bin ein Feld voller Raps verstecke die Rehe und leuchte wie dreizehn Ölgemälde übereinandergelegt, Frankfurt/M., 13, ISBN: 978-3-89561-189-6
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Lyrik des Juli 2017
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Etwas schräge Reime, Melodie und Rhythmus richten es jedoch auf ihre Weise, das sind die musikalisch gestalteten lyrischen Werke von Judith Holofernes.
Glücklicherweise liegen den CDs Booklets bei, insofern handelt es sich garantiert auch um Literatur. Doch die Grenzen zwischen Vortrag (Audio) und Niederschlag (Litera) verschwindet ja nicht nur dank des Nobel-Komitees und seiner Wahl von Bob Dylan zum literarischen Nobelpreisträger.
In der Intensivlyrik haben wir uns anhand Nicanor Parras What is poetry? intensiv mit Poesie und Rhythmus beschäftigt, Judith Holofernes zeigt in vielen ihrer Stücke der nebenstehend abgebildeten CDs, dass sie ihre Reime an viele Stellen durch Rhythmus und Melodie klar ziehen kann, oder vielleicht anders herum?
Wer eine Kostprobe davon erleben möchte, höre beispielsweise Pechmarie auf: Ein leichtes Schwert mit dem Refrain:
“Ich weiß, du hast Angst aber ich weiß, was du kannst und ich will, dass du tanzt nimm meine Hand
Ich weiß, du hast Angst aber ich weiß, was du kannst und dass sich sowas vertanzt komm zieh dich an”
Der Holper des “aber” ändert sich bei den zweiten beiden Refrains in “und”. Und wer will, kann hier Kunst erkennen, die von Können kommt.
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Ein leichtes Spiel und Ich bin das Chaos von Judith Holofernes, 2014 und 2017
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Buch des Juni 2017
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Für mich eine lyrische Neuentdeckung einer jüngeren Autorin mit multikulturellem Hintergrund, Safie Can.
“Löse dich
Löse dich vom Raumzeitgefühl, die Spinne webt uns einen Traumfänger, an Warmwettertagen sag Berlin, sag Köln sag Jena, belebe das Papier, du trägst die Wolke über dem Kopf, ich sonne mich in des Messers Schneide, die Romanidee trägt man im Bauch, im Herzen die Gedichte, löse dich vom Raumzeitgefühl, lerne das, es heißt Verlag, aber nicht Verläger und nach einem Schlusspunkt kommt niemals nie kommt da ein Komma.,”~
Schlusspunkt - Komma und dann ., so ein schönes doppeltes Lottchen :-), sich in Beschreibung und Darstellung widersprechend; und wer wie Frau Can den Unterschied zwischen Romanen und Gedichten so schön umschreibt, weiß auch was Nizanor Parra zu “Poetry” treibt.
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Kinder der verlorenen Gesellschaft, von Safie Can Göttingen, 2017, ISBN: 978-3-8353-3048-1
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Buch des Oktober 2014
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Stadtlandfluss ist ein Genuss, eine Rezension aus aktuellem Anlass
Die Kulturstiftung Nordrhein-Westfalen veranlasste jüngst, zu ihrem 25jährigen Bestehen, die Herausgabe einer Lyrikanthologie. Darin werden 111 Dichterinnen und Dichter, die einen Bezug zu Nordrhein-Westfalen haben, mit jeweils drei Gedichten präsentiert. Voraussetzung war, sie haben in den letzten 25 Jahren wenigstens ein Gedichtbändchen veröffentlicht. Lange verstorbene LyrikerInnen wie Heinrich Heine oder Anette von Droste-Hülshoff hatten also nicht einmal die Chance, in die Auswahl zu dieser Lyrikanthologie aufgenommen zu werden. Zur Erinnerung, Nordrhein-Westfalen gibt es erst seit 1946 (mit Lippe seit 1947)! Die ausgewählten Autorinnen und Autoren werden in Stadtlandfluss in alphabetischer Reihenfolge und so in gewisser Weise mit einem Zufallsmerkmal als Ordnungskriterium präsentiert. Wer sich darauf einlässt, hat deshalb eine relaiv große Chance auf Überraschungen. Schon im Vorwort schreiben die Herausgeber, “Nirgends sonst werden die Risse, die durch Landschaften, die auch Landschaften der Seele sind, gehen, so deutlich wie in der Lyrik. Dass die Literatur in diesem verwegenen, bevölkerungsstärksten Bundesland mit unterschiedlichen persönlichen Visionen, Träumen, Ängsten, Religionszugehörigkeiten und politischen Utopien ihrer Bürger eine besondere Rolle einnimmt, versteht sich von selbst.” Es versteht sich besser, durch konkrete Beschäftigung mit dieser Literatur.
Schon der erste Dichter, Khalid Al-Masly, zeitweise in Köln wohnend, dürfte für viele in die Kategorie Überraschung gehören. Insofern wollen wir hier nicht zu viel vorwegnehmen, sondern neugierig darauf machen, sich auf die lyrische Vielfalt Nordrhein-Westfalens einzulassen; oder um Auszüge aus dem auf Seite 211 abgedruckten Gedicht „wo entlang“ von Sibylle Klefinghaus zu verwenden, „wir verbrauchen viel schatten … alles glänzt außer reichweite und da müssen wir hin“.
Viel Vergnügen
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Stadtandfluss. 111 Dichterinnen und Dichter aus Nordrhein-Westfalen. Eine Lyrikanthologie. Heruasgegeben von Jürgen Nendza und Hajo Steinert im Auftrag der Kunststiftung NRW. Mit einem Nachwort von Ulla Hahn, Düsseldorf, 2014, ISBN: 978-3-940357-46-5
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Buch des August 2014
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Afrika, weit entfernt
und so groß, dass ein Sammelbegriff nur ungefähr wiedergibt, was wohl gemeint ist. Daraus und deshalb erwachsen ungeheuer vielfältige Vorstellungen, Sehnsüchte und Wünsche mehr oder weniger unkundiger Europäer zu Afrika. Meistens sind es Elends- und Schreckensmeldungen, die uns aus Afrika erreichen. Seien es Kriege, Hungersnöte oder Krankheiten, dem medialen Fokus auf solche jeweils aktuellen Themen werden grandiose Natur- und Reise-Dokumentationen ergänzend hinzugefügt und „Fertig“. Hinzu kommt in den letzten Jahren das Elend afrikanischer Flüchtlinge an den süd- und südwesteuropäischen Grenzen. Darüber hinaus kennt die eine oder der andere auch noch irgendein afrikanisches „Urlaubsland“ und hat dort sogar Aufführungen traditioneller Kultur erlebt. Doch es gibt auch ein Afrika, das westliche Kultur inspiriert und begeistert, worunter insbesondere Musik und Tanz fallen. Vor hundert Jahren beschäftigten sich viele europäische Künstler mit 'primitiver' Kunst und entdeckten, dass ihr Ringen um Ursprünglichkeit sich auch dort schon findet und scheinbar einfach einen kunstvollen Ausdruck findet, der sich für kultiviert haltenden Europäern häufig so schwer fällt, weshalb der Ausdruck 'primitiv' nur die Primitivität des eigenen Verständnisses, der eigenen Betrachtungs- und Herangehensweise bezeichne.
Vor diesem Hintergrund harrt die afrikanische Lyrik noch ihrer Entdeckung durch Europa, durch Deutschland. Denn von den geschätzt 2.000 afrikanischen Sprachen verfügen viele (noch) über keine Schriftform. Welche Ursprünglichkeit daraus spricht, lässt sich hier nur vermuten. Denn EuropäerInnen dürfte bisher hauptsächlich verschriftete afrikanische Lyrik begegnet sein. Dies dazu meistens wohl noch in den Formen der ehemaligen Kolonialsprachen. Doch selbst in diesem Bereich, verschriftete, ehemalige Kolonialsprachen, gibt es viel zu entdecken. Und dabei hilft das Bändchen afrikanischer Liebeslyrik, des Wuppertaler Peter Hammer-Verlags mit über 100 Liebesgedichten von XY afrikanischen AutorInnen aus gut 50 Jahren.
Das Thema Liebe, auf welches sich das Bändchen, wohl mit Rücksicht auf Europäer, fokussiert, sollte allen Menschen in irgendeiner Form geläufig sein. Gleichwohl lernt Liebe aus der Schilderung anderer, denn sie will erreichen, nicht besitzen, berühren, nicht stibitzen. Und was uns Afrika in Liebesangelegenheiten mitzuteilen in der Lage ist, bereichert fühlende Herzen mit ungewohnten Liebeswelten. N. X. Ebony (Elfenbeinküste) liefert beispielsweise mit „Verliebt in einen Stuhl“ ein interessantes Beispiel, welches Liebe als Objektwahl thematisiert und gleichzeitig zeigt, wie schwierig und, in psychoanalytischer Sicht einsam, diese besondere Art von Objektwahl sein kann; denn: „Die Liebe will das es geschieht“; um am Ende seines Gedichtes zu formulieren: „Doch ist die Liebe kein Geschenk | Das uns den Himmel auf die Erde holt“.
Klar, solche Erfahrungen haben wir vermutlich alle schon gemacht; doch schenkt uns dieses, ebenso wie die anderen in dem Bändchen abgedruckten Gedichte, außergewöhnliche Einsichten zur Liebe; ihr poetischer Ausdruck vermittelt uns selbst in der übersetzten Form ästhetische und kognitive Gewinne und öffnet uns fremde kulturelle Horizonte; ohne dabei auf ein weltweit verständliches Thema, die Liebe, zu verzichten.
Die facettenreiche und anregende Präsentation des Themas mit Liebesgedichten aus völlig anderen Kulturen war für uns an vielen Stellen sehr erhellend und neue Blickwinkel eröffnend. Es git zu dem Band mittlerweile eine CD mit ausgewählten und musikalisch begleiteten Gedichten, was darüber hinaus einen besonderen Reiz hat, den wir hier gerne erwähnen.
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Antilopenmond. Liebesgedichte aus Afrika, hg. v. Peter Ripken und Véronique Tadjo, Wuppertal 2002, ISBN: 3-87294-915-2 Dazu eine gleichnamige Audio-CD mit ausgewählten Gedichten aus dem Buch, 2007, ISBN: 978-3-88698
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Buch des Juni 2014
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Was hat es mit der Dichtung philosophisch auf sich? Was mit der Philosophie poetisch?
George Steiner, Verfasser von Texten wie “Grammatik der Schöpfung” und “Warum Denken traurig macht”, beschäftigt sich im vorliegenden Buch in anregender Weise mit dem Verhältnis zwischen Poesie und Philosophie. Beiden eigne in besonderer Weise Sprache; verwandtschaftliche Verhältnisse wären nicht auszuschließen, lägen sogar nahe. Zumal sich in beiden Bereichen Stil substanzialisiere. Belegt werden die Gemeinsamkeiten insbesondere aus den griechischen Anfängen heraus.- Zumindest die deutsche Übersetzung ist Durs Grünbein als „Dichter & Cartesianer“ gewidmet. Grünbeins Aussage; „Gegenüber den Dichtern stehen die Philosophen unglaublich gut angezogen da. Dabei sind sie nackt, wenn man bedenkt, mit welch dürftiger Bildsprache sie die meiste Zeit auskommen müssen.“ ist dem Buch als fünftes und letztes Motto vorangestellt.
Steiner ist Literaturwissenschaftler, also von Berufs wegen weder Philosoph noch Poet. Doch spätestens seit seiner Grammatik der Schöpfung, [Originaltitel: Grammars of Creation, (2001)] dürfte er als Philosoph wie als Poet respektiert sein. Vorliegendes Werk schreibt er anlässlich seiner Frage, ob es eine Lyrik, eine Musik des Denkens gebe, die tiefer gehen kann als jenes Denken, welches sich an Äußerlichkeiten von Sprache und Stil bindet? [13] Es wäre voreilig, schon hier bejahend einzuschreiten und Liebe als Lösung anzuführen, denn Liebe will gewonnen werden, nicht schnell erlegt. Doch was wäre länger Aufgabe der Poesie als jenes? Klar, dass die Philosophie so ins Hintertreffen gerät.
Womit beginnt denn die europäische Philosophie des 20. Jahrhunderts? – Na, mit Platon. Und die des 21. Jahrhunderts? – Na, mit Platon.
Womit beginnt dagegen die Poesie des 20. oder 21. Jahrhunderts? – Nun, das ist so einheitlich gar nicht zu beantworten. Teilweise sicherlich immer noch mit Platon, aber auch mit Planck, Einstein und Freud, wie beispielsweise Gottfried Benns “Verlorenes Ich”, die vermeintlich gewisse Warte der ersten Person, von der aus Descartes seinen Rationalismus entwarf. Steiner arbeitet sich eher an den philosophischen Aspekten ab und hofft am Schluss seines Buches, zugebend, nur Oberflächen angekratzt zu haben, dass irgendwo ein rebellischer Sänger oder vor Einsamkeit trunkener Philosoph das Verhältnis zwischen Philosophie und Poetik mit einer Zaubersilbe, „erfüllt vom Versprechen der Schöpfung“, rettet. [293]
Steiner ‘besucht’ in seinem Buch viele Philosophen und Schriftsteller und ihre Werke und zeigt uns, wie häufig Philosophie und Poesie einander begegnen, ja, berühren, stilbildend befruchten. Das ihm daraus vor allem anregende Erläuterungen erwachsen, macht die Lektüre gleichwohl spannend. Manches, was uns unzulänglich erscheint, mag auch der Übertragung aus dem Englischen ins Deutsche geschuldet sein. Andererseits, die Feier ehemaliger Berührungstexte zwischen Poesie und Philosophie ist verdienstvoll, doch vermissen wir aufscheinende Lösungsansätze; zumindest wenn denn der Aufruf zur Wiederbelebung des Vergangenen uns heute nicht wirklich hilft. Vorgefertigte Rezepte werden uns dankenswerter Weise ebenfalls erspart. Zentral bleiben so anregende Frage- und Problemstellungen die auf Neues gespannt machen.
Frei nach Erich Fried glauben wir, 'Wer will, dass die Poesie so bleibt wie sie ist, der will nicht das sie bleibt'*. Damit hängt zusammen, dass auch ihr Verhältnis zur Philosophie platonischer Provenienz nicht bleiben oder auch nur guten Wissens und Gewissens wieder werden kann wie es war. Wir sind der Auffassung, heutige Poesie hat immer noch häufig Bezüge zur Philosophie, insbesondere im Lyrik-Lab. Auf der Intensivlyrik wird anhand Nicanor Parras “What is poetry?” sogar ihr Verhältnis zur Musik in den Fokus gestellt. Im Lyrik-Lab wird auf topologische Eigenschaften wie Orientierbarkeit hingewiesen. Zu entdecken gibt es immer wieder etwas. Wir meinen, Lösungen sollten selbst, wenn auch nicht unbedingt allein, erarbeitet werden. Denn in vielen Fällen gilt das Foerstersche Theorem.
Sein Befund für unsere Zivilisation: „Die Entmenschlichung der Sprache, ihr Verfall zu ideologischer Hysterie, Lüge und Gebrüll, war am offensichtlichsten in Nazi-Deutschland und ist eingehend untersucht worden, ebenso die Schlachthausrhetorik von Faschismus und Stalinismus. Aber das Phänomen ist viel umfassender. Der augenscheinliche Triumph des unternehmerischen Liberalismus, die Gleichsetzung des menschlichen Fortschritts, der menschlichen Exzellenz mit materieller Anhäufung, die praktische Allmacht der Massenmedien brach-| ten Verrohung und Verlogenheit in Wort und Syntax mit sich, eine 'Amerikanisierung' des Diskurses (wobei dieses Epitheton selbst ein verleumderisches Kürzel sein mag). ... Eine Schatzkammer an Worten, aus der Shakespeare, Milton oder Joyce sich tausendfach bedienten, hat sich gemäß einer statistischen Erhebung von Telefongesprächen und E-Mails eines Durchschnittstages in Nordamerika auf ca. fünfundsechzig Wörter reduziert. Keine Werbung geht das Risiko eines Nebensatzes ein. Konjunktive, Hoffnungsträger und Vermittler alternativer Lebensentwürfe, verschwinden mehr und mehr, selbst aus dem Französischen, das einst seine stolze Heimat war. Gewiß, neue Begriffe entstehen. Gewiß, bestimmte Formen und Techniken der Massenunterhaltung wie etwa der Rock 'n' Roll oder der Rap können voll sprühenden Wortwitzes sein. Aber die Säuberungen einer Technokratie, die dem Konsumwahn verfallen ist (siehe China), sind global. Der tägliche Diskurs unzähliger Männer und Frauen, der Jungen, das betäubende Geplapper der Medien ist minimalistischer Jargon. Alles, was ich hier zu sagen versuche, ist bündiger ausgedrückt in Celans Forderung nach einer 'Sprache nördlich der Zukunft'. Obwohl er selbst, der die Sprache exakt an den Rand des Unsagbaren nötigte, das Empfinden hatte, es möchte schon zu spät sein. Sprache, der Logos waren zu Prosa verkommen, diese wiederum zu Gerede verwest.“ 267 | 268 scheint niederschmetternd. Doch gäbe es einen Vergleich mit dem alltäglich benutzten Griechisch zu Platons Zeiten, so vermuten wir dass die heutigen Nordamerikaner schon ein, zwei Worte mehr benutzen als seinerzeit Platons Zeitgenossen. Lief doch schon Diogenes am hellichten Tag mit einer brennenden Laterne über den Marktplatz, Menschen suchend.
Steiners Hoffnung auf die rettende Silbe ist also einerseits berechtigt, „aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund“ oder „dann fliegt vor einem geheimen Wort das ganze verkehrte Wesen fort“ erfüllt sich andererseits, Worte gebend, teilweise auch selbst.
[Alternativ könnten wir uns auch auf John Cage beziehen: “Ich habe nichts zu sagen - und ich sage es - und das ist Poesie - wie ich sie brauche -.- Dieses Stück Zeit - ist gegliedert. - Wir brauchen nicht diese Stille zu fürchten.- wir könnten sie lieben .-” aus ders., Silence, Frankfurt/M., 1995, 7]
Steiners berechtigten Hoffnung stimmen wir mit Gottfried Benns Gedicht “Kommt -” zu und halten das Fazit des Hohen Lieds der Liebe für gültig: „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen“. (1. Kor. 13,13) Und dafür ist Gespräch unentbehrlich.
Wenn wir auch den wichtigsten Bezug der Poesie in ihrer Beziehung zur Liebe sehen, aufgrund der Liebe zur Weisheit halten wir George Steiners “Gedanken dichten” ebenfalls für lesenswert und sicherlich hat sein vorliegendes Werk ‘Stil’. Norbert Stenkamp
* Fried, Erich, Status quo, in: Gedichte, München, 2012, 87
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George Steiner: Gedanken dichten - Essay Aus dem Englischen von Nicolaus Bornhorn (Originaltitel: The Poetry of Thought, 2011) Frankfurt/M., 2011 ISBN: 978-3-518-42261-8
Inhalt Vorwort 9 1; 16 2; 27 3; 65 4; 86 5; 102 6; 158 7; 210 8; 261 9; 288 Anmerkungen des Übersetzers; 294
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