Unschuldig? gibt es nicht! Das ließ schon vor mehr als zweieinhalb Tausend Jahren der Spruch des Anaximanders vermuten.*
Walter Benjamin, selber von kleingroßen Geistern verfolgt, bemerkte zur Aufgabe des Übersetzers: “Nirgends erweist sich einem Kunstwerk oder einer Kunstform gegenüber die Rücksicht auf den Aufnehmenden (oder die Aufnehmende, nst) für deren Erkenntnis fruchtbar.”**
So trauern wir stellenweise um die Kunst und setzen hier ein Zeichen der Erinnerung aus konkretem Anlass.
Es macht uns Angst, aber noch mehr macht es uns widerständig!
Ansonsten bliebe uns ja nur noch: zu verstummen. Denn eingedenk dessen, dass selbst eine Rede vom Sonnenuntergang*** wissenschaftliche Gemüter zu beleidigen vermag und ebenso wissend, dass für die andere Rede von der sich drehenden Erde schon Menschen zum Widerruf gezwungen, gar auf Scheiterhaufen verbrannt wurden, lässt sich bei jedem Wort beklagen, es sprenge die Grenzen einer kleingehegten Welt.
Das liegt, - den einen zum Trost, den anderen zur Sorge -, nicht an den Worten, sondern an der Sprache selbst.****
Insofern steht die Frage im Raum, ob ernsthafte Lyrikerinnen und Lyriker heia puppeia, ... überhaupt so flache Gedichte verfassen können, dass jede Möglichkeit des (Miß-)Verstehens von vornherein ausgeschlossen wird?!
Wer mag einem solchen Ansinnen auch schon gerne gediegene Werke anfertigen oder nur zur Verfügung stellen??
Offenbar leben wir in einer Zeit, in der ein Gedicht über Straßen, über Blumen und Frauen, moralisch schon verbrecherisch sein kann, Manchen.*****
Wir experimentieren im Lyrik-Lab des Ruhrgebiets weiter mit lyrischer Sprache und lyrischem Sprechen in der Hoffnung, die Welt beuge sich nicht den Empfindlichsten, sondern gebe ihnen statt dessen lieber etwas von ihrer Kraft und/oder packe sie in Watte:
Aller Augen warten auf mich,
Oh Schauende,
Denn das gehört sich,
Weil ich, als auf euch Bauende,
Mir Zeit lassen muss,
Euer tieferes Schmachten
In dauerndem Genuss
Auskostend zu betrachten.
* Siehe dazu auch den Friedrich Nietzsche und Hermann Diels anführenden Martin Heidegger: Der Spruch des Anaximander, unter anderem in: Ders., Holzwege, Frankfurt/M., ISBN: 3-465-02682-9
** Benjamin, Walter: 2016, Die Aufgabe des Übersetzers, in: Charles Baudelaire: Tableaux Parisiens. Deutsche Übertragung mit einem Vorwort über die Aufgabe des Übersetzers von Walter Benjamin V-XVII, hier VII; Frankfurt/M., Basel, ISBN: 978-3-86600-256-2
*** Heine, Heinrich: “Das Fräulein stand am Meere | Und seufzte lang und bang, | Es rührte sie so sehre | Der Sonnenuntergang
Mein Fräulein! sein Sie munter, | Das ist ein altes Stück; | Hier vorne geht sie unter | Und kehrt von hinten zurück”
**** Übrigens ermöglichen etliche Beiträge zur Dichtung Eugen Gomringers und insbesondere des angeprangerten abgeprankten in einem kleinen, empfehlenswerten Büchlein einen verständigeren Umgang damit:: Gomringer, Eugen, 2018, poema. Gedichte und Essays. Herausgegeben von Nortrud Gomringer, Wädenswil am Zürichsee
***** KennerInnen reicht der Text, anderen sei hier der Hinweis auf die Vorlage gegeben: Brecht, Bert: An die Nachgeborenen,
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